Auf nach Germania! ​ 50 Jahre Zuwanderung – Anmerkungen zu einer politischen Geisterfahrt

16,90

Artikelnummer: Anderwelt Kategorie:

Beschreibung

Autor: Hans Jörg Schrötter
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​ 50 Jahre Zuwanderung – Anmerkungen zu einer politischen Geisterfahrt

Seitenzahl: 229
​ ISBN: ​978-3-940321-06-0
Ausführung:
​Softcover

Auf keinem anderen gesellschaftspolitisch brisanten Terrain herrscht ein
so geisterhaftes Diktat des Schweigens, des Verschweigens, des
Schönfärbens wie bei Fragen rund um Migration und Integration.

Dieses Buch wagt sich weit vor, es zeigt mutig die zentrale Ursache
jener längst aus dem Ruder gelaufenen Einwanderungsströme auf: das Tabu.
Leidenschaftlich und mit lebendigen Beispielen räumt der erfahrene
Sachbuchautor auf mit Lebenslügen, die unsere politisch Verantwortlichen
uns seit 50 Jahren auftischen, um ihre Konzeptlosigkeit, ihr Zaudern,
ihre Ohnmacht auf diesem grundlegenden Zukunftsfeld zu verschleiern.

​ Tatsächlich passierte uns die millionenfache Zuwanderung aus
verschiedensten Kulturen nicht, weil wir sie „brauchen“ oder „nicht
brauchen“. Zuwanderung passierte. Das Markenzeichen unserer
Einwanderungspolitik ist die verfehlte – oder fahrlässig verweigerte –
Steuerung von Migration – mit unumkehrbaren Konsequenzen.

 

Leseprobe: Auf nach Germania!

Zäune – Grenzen – Mauern?

Die
Griechen sprechen von „Zaun“. Eine eher verharmlosende Bezeichnung für
dieses monströse Sperrwerk. Über mehr als zehn Kilometer zieht es sich
entlang der Grenze durch die weite Ebene – dort, wo die Türkei endet
und Griechenland anfängt. Stahlpfosten, Maschendraht, dahinter
Stacheldrahtrollen aus Nato-Draht, in den messerscharfe Klingen
eingestanzt sind. Dann wieder ein Stahlgerüst und Maschendraht. Drei
Meter hoch und 1,20 Meter breit ist das Bollwerk. Es soll
unüberwindlich sein. Festung Europa?

206
Kilometer ist die griechisch-türkische Grenze lang. Größtenteils folgt
sie dem Verlauf des Flusses Evros. Aber bei der nordgriechischen Stadt
Orestiada fließt der Evros in einer weiten Biegung nach Osten, auf die
türkische Stadt Edirne zu, bevor er wieder nach Westen zurückkehrt.
Dazwischen verläuft die Grenze 12,5 Kilometer über Land. „Das ist die
neuralgische Stelle“, sagt ein Grenzpolizist, der von einer Anhöhe aus
mit einem Feldstecher die Grenze beobachtet. „Hier kamen sie rüber, das
war ihr Tor nach Europa.“ In manchen Nächten waren es Hunderte. „Im
Herbst 2010 kamen Nacht für Nacht ganze Reisegruppen illegal über die
Grenze.“

Tatsächlich
entwickelte die Situation eine Dramatik, die man in ganz Europa mit
Stirnrunzeln quittierte. Rund 47.000 illegale Migranten wurden 2010 an
der türkischen Grenze aufgegriffen, fünfmal mehr als 2009. Wie viele
aber – sozusagen zusätzlich – nach Europa gelangen, weiß niemand.
Sicher ist nur: Wer es auf griechischen Boden geschafft hat, der ist
erst einmal „angekommen“. Angekommen im „Schengen-Raum“, diesem
legendären Paradies der Freizügigkeit ohne Binnengrenzen, in dem man
unbeschwert vom Nordkap bis nach Gibraltar, von Sylt bis Medina, von La
Rochelle 
bis Riga reisen kann, ohne an den Staatsgrenzen ein einziges Mal nach Papieren, Pässen, Ausweisen gefragt zu werden.

Umso
bedeutsamer ist naturgemäß die Aufgabe, die Außengrenzen des Schengener
Gebietes sorgfältig zu sichern. War Griechenland hier überfordert?
Die Kritik aus den anderen Staaten der Europäischen Union wurde lauter.
Sogar ein Ausschluss Griechenlands aus dem Verbund der Schengen-Staaten
wurde erwogen.

Als
hätte das arme Hellas nicht schon genug Probleme. Im Dezember 2012
lebten allein in Athen mittlerweile mehr als 100.000 Migranten illegal.
Ganze Stadtviertel, so heißt es, seien zu Slums mutiert. Soziale
Spannungen und wachsende Kriminalität verschafften zudem rechtslastigen
politischen Gruppen wie der „Goldenen Morgenröte“, die in Umfragen
bereits bei 10 Prozent rangierte, dramatischen Zulauf.

Der
silberne Metallzaun glänzt, die scharfen Klingen des Stacheldrahtes
glitzern gefährlich in der Februarsonne. Infrarot- und
Wärmebildkameras sorgen tagsüber wie nachts für eine lückenlose
Überwachung.

Was
ändert der Zaun? Schafft er die ungezählten Armutsflüchtlinge aus
Ländern wie Afghanistan oder Pakistan, aus Somalia oder dem Sudan oder
zunehmend aus Nordafrika einfach ab? Wo bleiben diese leidgeprüften
Menschen, von denen man allein von Oktober bis November 2011 dort am
Evros noch fast 14.900 aufgegriffen hat – und deren Zahl im
Vergleichszeitraum 2012 auf 165 zurückging?

Von
August bis Dezember 2012 zählte man rund 2.500 Bootsflüchtlinge. In
der blau glitzernden Ägäis lassen sich keine Zäune errichten.

Wo ist die
Antwort? Wo ist die Patentlösung nach außen, gegenüber denen, die zu
uns streben? Wo ist der Königsweg im Zusammenleben mit denen, die in
den westlichen Staaten Europas leben wollen? Die aus armen und ärmsten
Regionen dieses Globus aufbrechen, um der Perspektivlosigkeit in ihren
Heimatländern zu entrinnen? Die auch nur ihr eines Leben – und nichts
zu verlieren haben?

Ein Zaun
ist wie Aspirin, er kuriert an Symptomen. Wo aber ist das politische
Konzept? Gab es jemals eins seit Beginn der Europäischen Gemeinschaft
1957? Oder seit 1955, als im westlichen Wohlstandsdeutschland erste
„Gastarbeiter“ eintrafen? Vor allem – hat man etwas gelernt seither in
Sachen „Integration“? In Sachen „Aufnahmebereitschaft“ oder
„Aufnahmefähigkeit“ Westeuropas?

Das Prinzip „Konzeptionslosigkeit“

Nichts
hat man gelernt. Ratlosigkeit ist das zentrale Element auch der
aktuellen und aktuellsten Diskussion. Am 28. Februar 2013 ist man zu
Gast bei Maybritt Illner. Man redet über den jüngsten tausendfachen
Zustrom von Sinti und Roma aus Rumänien und Bulgarien nach Frankreich,
Holland, Deutschland. Renate Künast ist da. Markus Söder ist da. Und
Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin- Neukölln, sagt:
„Wir müssen wöchentlich neue Schulklassen eröffnen. Wir brauchen bei
uns 80 neue Lehrer, um Kinder zu unterrichten, die noch nie eine Schule
von innen gesehen haben. Die noch nie ein Wort Deutsch gehört haben.“
Und er fügt hinzu: „Es kommen ganze Dörfer – einschließlich Pfarrer!
Und sie werden bleiben.“

Kam also der Beitritt Bulgariens und Rumäniens in die Europäische Union verfrüht? Natürlich, ja, das kam verfrüht, da ist die
illustre Runde im ZDF sich einig. Diese beiden 2007 beigetretenen
Länder hatten – und haben bis heute – ihre Schularbeiten nicht gemacht.
Gut, man vereinbarte eine Karenzzeit von sieben Jahren, bis auch für
diese Staaten die uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb der Union
gelten soll. Aber was sind sieben Jahre – bei Ländern, in denen sich
beim Minderheitenschutz nichts bewegt? In denen die Diskriminierung der
Roma und Sinti traurige Tradition ist? Eine Tradition, die innerhalb der
EU nicht akzeptabel ist?

Wir „bewundern“, konkret gesprochen, einmal mehr eine gigantische politische Fehlleistung. Vor dem
Beitritt hätte man ihnen auf die Finger schauen müssen, den Rumänen
und Bulgaren. Wer Europas Grenzen in dieser handwerklich ungenügenden
Verfahrensweise beseitigt, schafft nicht mehr Akzeptanz gegenüber der
europäischen Idee, sondern riskiert vielmehr – so Heinz Buschkowsky –
ein Anwachsen rechter Kräfte: „Wir haben in Berlin bei der Ankunft
ganzer Roma-Familien Interviews geführt. Wir haben ein kleines Mädchen
gefragt: ‚Na, wo ist es denn nun schöner, zu Hause im Heimatdorf oder
hier?’ Die Antwort: ‚Zu Hause ist es schöner – aber da ist keiner
mehr.’“

Mit
anderen Worten: Deutschland erlebt derzeit eine neue,
integrationspolitisch besonders problematische Einwanderungswelle. Und
dies nicht etwa über die Außengrenzen der EU, über schwer
überschaubare Grenzlinien am Mittelmeer. Oder am Evros, wo man
gigantische Grenzen aus Nato- Draht errichtet. Hier, innerhalb der neuen
EU, öffnet man neuen Integrationsproblemen, neuen Migrationsströmen
und neuen Herausforderungen für die begehrten Zielländer die
Schleusen. Der Präsident des Deutschen Städtetages, Christian Ude,
nimmt es in den Mund – das neue Wort von der „Armutswanderung“.

Wo ist das Konzept? Wo die durchdachte Politik? Warum blockt man jene? Warum duldet man andere?

Seit
Rumänien und Bulgarien zur Europäischen Union gehören, verlassen
Roma-Familien mit Sack und Pack ihre dortigen Siedlungsgebiete – und
ziehen gen Norden, zu uns. War das nicht vielleicht voraussehbar? An
wenigen Fingern abzuzählen? Zehntausende leben inzwischen auch in
Berlin, vor allem in Neukölln. Die dortigen, mittlerweile nahezu
kompletten rumänischen Dorfgemeinschaften beschrieb Heinz Buschkowsky
im ZDF ohne Schnörkel.

Fakt
ist: Allein 2011 strebten aus diesen beiden jüngsten EU-
Mitgliedstaaten 146.025 Migranten nach Deutschland – eine Steigerung
gegenüber 2010 um 29,3 Prozent. Und von Januar bis Oktober 2012 kamen
mit 153.000 Wanderern wiederum mehr Rumänen und Bulgaren nach
Deutschland, als im gesamten Jahr 2011 – so die Zahlen des
Bundesinnenministeriums. Viele Einwanderer gelten als
Armutsflüchtlinge. Bundesinnenminister Friedrich warnte im März 2013,
diese neuen Migranten würden das deutsche Sozialsystem aushöhlen, und
setzte sich dafür ein, den Beitritt beider Länder zum Schengen-Raum zu
verhindern. Der Minister forderte zugleich eine Wiedereinreisesperre
für Sozialbetrüger. Am 7. März 2013 wurde entschieden, den zum
Jahresbeginn 2013 eigentlich vorgesehenen Schengen-Beitritt Rumäniens
und Bulgariens zunächst einmal zu verschieben.

Radio
Berlin Brandenburg widmete diesem Thema bereits im Mai 2012 eine
spannende Reportage. Die Stadt habe den überraschenden Zustrom von
Angehörigen der Roma eigentlich erst registriert, als plötzlich
beinahe täglich rumänische und bulgarische Kinder an den hiesigen
Grundschulen angemeldet wurden. Die Schulen bemühten sich nun, die
jungen Neuankömmlinge zu integrieren – und stießen auf große 
Probleme:
Kinder und Eltern sprächen kein Deutsch; viele seien Analphabeten und
hätten große Schwierigkeiten, sich bei uns zurechtzufinden.

Die sich
hier auftürmenden Integrationshürden sind nennenswert. Sie basieren,
so Professor Klaus-Jürgen Bade, Migrationsforscher und Vorsitzender des
Sachverständigenrates für Integration und Migration, auf
verschiedenen Ursachen. Zum einen existierten ausgeprägte Vorurteile
seitens der Europäer, auf der anderen Seite gebe es bei den Roma
Gruppen, die sich nach langen Anfeindungen völlig zurückgezogen
hätten und sich kaum integrieren ließen. In Deutschland, so Bade,
passten die bestehenden Integrationsprogramme nicht zu den Roma und
würden die kulturellen Besonderheiten wie auch Probleme wie
Analphabetentum nicht berücksichtigen. Zurzeit würden die Kommunen mit
den Schwierigkeiten völlig allein gelassen.

Bis
heute dürfte es vielen Menschen in unserem integrierten Europa nicht
klar sein – genauer, von politisch verantwortlicher Seite nicht klar
erläutert worden sein: Die über den grünen Klee so sehr gerühmte
Medaille der offenen Grenzen innerhalb der EU hat eine Kehrseite –
Grenzöffnungen erleichtern eben auch „Armutswanderungen“ in erheblichem
Maße.

Und die Artisten unter der Reichstagskuppel? Ratlos!

Ratlos –
und das nicht erst seit einigen Monaten. Ratlosigkeit, verbunden mit
evidenter Konzeptionslosigkeit, sind die prägenden Kriterien einer
Politik des Wegschauens, des Verdrängens, des Laissezfaire der
vergangenen fünf Jahrzehnte …